Wolfgang Kartte
Herrn Dr. Hans D. Barbier
Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung e.V.
Bonn
- Zur Jahreshauptversammlung am 12. September 2002
Lieber Herr Barbier,
Mir kommen zunehmend Zweifel, ob wir die richtigen Themen diskutieren.
Die Gefährdung seiner Sozialen Marktwirtschaft durch Menschenwerk hatte Ludwig Erhard vorausgeahnt.
Sein Versuch, die ab Mitte der sechziger Jahre zunehmend prinzipienlose und auseinander laufende
Wohlstandsgesellschaft für eine „formierte Gesellschaft“ zu begeistern, hatte aber keinen Erfolg.
Mittlerweile gibt es zahllose, meistens auch zutreffende Reparaturanweisungen. Wir wissen heute genau, was geschehen müsste, um die verflixte Realität auf das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft zurückzuschneiden. Die Stichworte sind bekannt: zu hohe Staatsquote, zu hohe Steuern, zu viel Staatswirtschaft und Regulierung, fehlende Anreize zum Arbeiten, falsche Anreizmechanismen in der Sozial- und Gesundheitspolitik, Versäumnisse der Wettbewerbspolitik. Auch unsere Stiftung hat sich dazu oft geäußert.
Veranstaltungen, auf denen diese Klagen immer wieder von den denselben alten Recken wiederholt werden, führen nicht weiter. Wenn diese Leute früher staatstragende Funktionen innehatten, waren sie ja auch selbst an den falschen Entscheidungen beteiligt. So hat mir neulich Helmut Schmidt sein wohl vorletztes Buch „Auf der Suche nach einer öffentlichen Moral“ samt Widmung zukommen lassen. Ich habe dem Überbringer, Klaus Bölling, mit allem Respekt die Antwort mitgegeben, es wäre schön gewesen, wenn der Herr Bundeskanzler schon während seiner Amtszeit danach gesucht hätte.
Nutzlos und allenfalls gelegentlich nötig, um unsere Stiftung in die Presse zu bringen, sind Honoratiorenveranstaltungen mit der ersten Garnitur der aktuellen Machthaber in Politik und Wirtschaft. Diese Leute wissen in der Regel Bescheid, können aber mit Blick auf den nächsten Wahltermin oder ihre Karriere öffentlich gar nicht sagen, was Sache ist. Auch der bei uns vorherrschende Schmusekurs unter den Funktionären aus Politik und Wirtschaft verbietet klare Worte, was Herr Braun in dem Podiumsgespräch am 11. März in schöner Offenheit bestätigt hat.
Wichtiger scheint mir zu sein, wie neulich in Berlin, mit selbständigen Unternehmern und jüngeren, noch unverbrauchten Funktionsträgern darüber zu sprechen, ob überhaupt eine reelle Chance besteht, in unserem aktuellen gesellschaftlichen Umfeld die Soziale Marktwirtschaft zu reformieren. Ihrer Moderation ist es zu verdanken, dass dies auf dem Podium am 11. März in Berlin angesprochen wurde. Wir erleben es gerade jetzt im Mikrokosmos Berlin. Offenbar muss zuerst der Karren an die Wand fahren, bevor der Staat Wohltaten zurücknehmen kann. In Berlin weiß inzwischen selbst die PDS mit ihrem schlauen Herrn Gysi, was eigentlich zu tun wäre.
Haben also die Hayeks Recht, die stets davor gewarnt haben, Wirtschaftspolitik mit Sozialpolitik zu vermengen? Steht für uns nur noch die amerikanischen Spielart der Marktwirtschaft zur Wahl, mit all ihrer Unverträglichkeit mit den kontinentaleuropäischen Lebensstilen und Befindlichkeiten?
Oder sind nur die Politiker zu ängstlich? Ist der Wähler gar nicht so
uneinsichtig, dass er sich für jede Kürzung staatlicher Leistungen mit dem Stimmzettel
rächen würde?
Mault das Wahlvolk vielleicht deswegen, weil es den Politikern eine gerechte Verteilung der Lasten
nicht zutraut? Oder befürchtet man, dass die Politiker das Eingesparte anschließend anderweitig
verschwenden würden?
Ein neuer Ludwig Erhard ist nicht in Sicht. Es kann ihn auch gar nicht geben, weil es heutzutage an dem Zusammenhalt der damaligen Nachkriegsgesellschaft fehlt. Damals liefen die Überlebensinteressen einer geschundenen Gesellschaft für kurze Zeit in die gleiche Richtung. Ohne diese Ausnahmesituation hätte es wohl auch Altmeister Erhard nicht geschafft.
Auf dem Podium am 11. März haben, soweit ich mich erinnere, Herr Gentz und Herr Schmieding deutlich gemacht, dass auch in den USA nicht alles Gold ist, was glänzt. Deutschland ist im wirtschaftlichen Wachstum zwar Schlusslicht in Europa. Wir wissen aber aus eigener Anschauung und von den vielen Zugereisten, dass der Normalbürger nirgendwo besser lebt als in Deutschland. Dafür stehen die gleichmäßige Verteilung des Wohlstands, der breite Mittelstand, das vielfältige und hochwertige Konsumgüterangebot und die sagenhafte Infrastruktur, ganz abgesehen von der natürlichen Schönheit unseres Landes und dem Füllhorn der hohen Sozialleistungen.
Vieles von dem, was uns Deutschen, wie allen Kontinentaleuropäern, an Traditionen und kulturellen Eigenarten lieb und teuer ist, ließe sich auch in eine globalisierte Wirtschaft hinüberretten, wenn wir nur unsere Arbeitsmärkte liberalisieren würden. Auf dem Berliner Podium kam dies wiederum und deutlich zum Ausdruck.
Natürlich ist eine Wirtschaft, in der, wie in Amerika, eine Mehrheit sich dem Prinzip des „Survival of the fittest“ verschrieben hat, für die Unternehmer kalkulierbarer und lässt sich mangels hoher Sozialabgaben auch als effizienter darstellen. Im besonderen Fall der USA mag dieses Prinzip aus vielerlei historischen Gründen auch funktionieren.
Hingegen spielen in Europa sowie in großen Teilen der übrigen Welt,
durch andere Historien bedingt, korporative Elemente unterschiedlicher kultureller Herkunft und Prägung
immer noch eine große Rolle. Sie lassen sich nicht hinwegdiskutieren und überstürzt
in Frage stellen. Wahrscheinlich beeinflussen derartige Unvollkommenheiten der Märkte die Leistungsbereitschaft
und Leistungsfähigkeit unserer Bevölkerung eher positiv. Glückliche Kühe geben
bessere Milch.
Indessen gibt es zweifellos Bereiche, in denen wir für den Wettbewerb mehr tun könnten.
Ein Musterbeispiel sind die Energiemärkte, wo durch falsche Privatisierung und durch ein Zwangskartell
(konzertierte Beendigung der Stromproduktion aus Kernenergie) Vieles verkorkst wurde. Auch das Gesundheitswesen,
für das wir die richtigen Rezepte schon vor dreißig Jahren in unseren interministeriellen
Arbeitskreisen geliefert haben, liegt im Argen. Aber dazu möchte ich mich als Kartellamtspräsident
a.D. nicht weiter äußern, zumal die geeigneten Abhilfen auf der Hand liegen und nur politisch
„tabu“ sind.
Und damit bin ich zurück in der indonesischen Inselwelt, wo die Arbeit für die Soziale Marktwirtschaft im Augenblick mehr Spaß macht.
Mit den besten Grüßen
Wolfgang Kartte, Mai 2002